Katastrophen. Religiöse Bildung angesichts von Kriegs- und Krisenerfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert

Katastrophen. Religiöse Bildung angesichts von Kriegs- und Krisenerfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis für historische Religionspädagogik (AKHRP)
Ort
digital (Paderborn)
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2022 - 23.02.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Breckner / Harald Schroeter-Wittke, Institut für Evangelische Theologie, Universität Paderborn

Die drei K im Titel der von Richard Janus, Naciye Kamcili-Yildiz, Marion Rose und Harald Schroeter-Wittke geleiteten Tagung – Katastrophen, Kriege, Krisen – erhielten angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage eine ungeahnte, dramatische Aktualität. Deshalb ist dieser Tagungsbericht nicht nur eine Bündelung eines intensiven thematischen Austauschs über historische Ereigniskomplexe und Zusammenhänge, sondern ist unter dem Eindruck von Medienberichten über russische Bombardierung der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 verfasst.
Dieser Einfluss von außen auf zeitgenössische, theologische und kulturwissenschaftliche Publikationen wurde während der Tagung z.B. mit Blick auf die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und auf die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs diskutiert. FELIX HINZ (Freiburg), ein Geschichtsdidaktiker, verwies in seinem Hauptvortrag beispielsweise auf das „Schreiben nicht nur im Hinblick auf, sondern gleichzeitig unter dem Eindruck von einer Katastrophe“ bei Steven Runciman, der „A History of the Crusades“ unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs 1951–1954 veröffentlichte. Er eröffnete aber auch das weite Feld von der Tempelzerstörung 70 n. Chr. über die Katastrophen des Kolonialismus und den Tsunami 1755 von Lissabon bis in das 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg stellte als Ereigniskomplex mit den Vorentwicklungen und Nachwehen einen thematischen Schwerpunkt der Tagung dar. Aber darüber hinaus wurde zum Zweiten Weltkrieg, zu Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den beteiligten Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Evangelische, Katholische und Islamische Theologie, Bildungswissenschaften, Geschichtswissenschaften und sogar Pflegewissenschaften geforscht. Ereigniskomplexe, historische Publikationen, Artefakte und Biographien wurden nachvollzogen und Kontexte für religiöse Bildung in Religionsgemeinschaften, Schule und Gesellschaft beschrieben.

Übergreifende religionspädagogische Reflexionen von „Katastrophe“ boten ANTJE ROGGENKAMP (Münster), die die Religionspädagogik als Krisenwissenschaft durchdachte, und NACIYE KAMCILI-YILDIZ (Paderborn), die Katastrophendeutungsdiskursen aus der Perspektive der islamischen Religionspädagogik nachspürte.
Drei Beiträge setzten sich mit Ereignissen des 19. Jahrhunderts auseinander. Dabei wurden auch Antworten der Theologien und Religionspädagogik auf Revolutionen und Reformbewegungen betrachtet. Die Geschichte – auch die Kirchengeschichte – hat gezeigt, dass gerade die Erfahrung von Katastrophen, Kriegen und Krisen immer wieder Revolutionen und Reformbewegungen hervorgerufen hat, die zu einer religionspädagogischen Reflexion einladen. Schon in gesellschaftspolitischen und religiösen Diskursen des 19. Jahrhunderts wirkten Katastrophen und Krisen also als Auslöser und Katalysatoren für Veränderungen. Das griffen u.a. CHRISTINE AUER (Frankfurt am Main) anhand der Gründung von „Heilanstalten“ im schwäbischen Raum 1848/49 und SAID TOPALOVIC (Erlangen-Nürnberg) anhand von Reformbewegungen in Bosnien-Herzegowina auf. JAN CHRISTIAN PINSCH (Paderborn), erörterte, ob die lippische Frömmigkeit der Erweckungsbewegung als Antwort auf Krisen und Katastrophen gelten könne. Gerade durch die südosteuropäischen Schilderungen ergab sich der fließende Übergang des 19. in das 20. Jahrhunderts.

Mit dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Zeit beschäftigten sich die meisten Beiträge. Das ergibt sich nicht nur aus der Begrifflichkeit der Urkatastrophe, sondern auch durch die theologischen Spannungsfelder, die dieser Krieg exemplarisch vor Augen führte: Als der Erste Weltkrieg ausbrach, herrschte in Deutschland eine ungeahnte Begeisterung. Sowohl evangelische als auch katholische Christ:innen im deutschen Kaiserreich befürworteten den Krieg in großer nationaler Euphorie und überschießendem Patriotismus. Vielerorts wurden spontan Kriegsgottesdienste gefeiert. Das Narrativ lautete: Gott selbst habe dem Kaiser das Schwert zum heiligen Krieg in die Hand gedrückt. Der Ausgang ist bekannt, der Erste Weltkrieg wurde zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

WERNER SIMON (Mainz) konnte anhand von Heinrich Mayer, einem Theologen mit Weltkriegserfahrung, die Diskursveränderungen durch Kriegserfahrungen im dezidiert religionspädagogischen Kontext nachzeichnen, ebenso ANDREAS KUBIK-BOLTRES (Osnabrück) für Otto Eberhard. SEBASTIAN ENGELMANN (Karlsruhe) hinterfragte Hermann Lietz, dessen Argumentation als Pädagoge sich durch seine Kriegserfahrungen nicht grundlegend wandelte. Die Entstehung von Kriegsdenkmälern in der Weimarer Zeit war abhängig von den Kriegsdeutungen der Auftraggebenden, häufig Pfarrer, wie MICHAEL LAPP (Frankfurt am Main) zeigte. Dass Kirche und Friedenserziehung zusammenhängen können, machte THOMAS NAUERTH (Osnabrück) deutlich, der sich Franziskus Maria Stratmanns Buch „Weltkirche und Weltfrieden“ (1924) widmete. RICHARD JANUS (Paderborn) beleuchtete Antisemitismus bei Hermann Tögel und Kurt Freitag, zwei einflussreichen Religionspädagogen der Weimarer Zeit. Einblicke in jüdische Krisendeutungen und -bewältigung gewährte JAN WOPPOWA (Paderborn), der sich aus katholischer Perspektive mit Ernst Simon und seinen Frankfurter Wurzeln in den Zwischenkriegsjahren auseinandersetzte.

Auch der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen für die Religionspädagogik wurden in mehreren Vorträgen fokussiert. HEIN RETTER (Braunschweig), der sich dem Thema „Inferno Nationalsozialismus. Das systematische Morden in der Zeit der ‚Endlösung‘“ widmen wollte, verstarb wenige Tage vor der Tagung am 13. Februar 2022 im Alter von 84 Jahren. In einer Gedenkminute wurde seiner gedacht, und DAVID KÄBISCH (Frankfurt am Main) fasste in seiner Funktion als Vorsitzender das akademische Lebenswerk des Verstorbenen zusammen. Käbisch schlug außerdem die Brücke zwischen 1918 und 1945, indem er sowohl qualitativ als auch quantitativ Kriegserlebnisse von Pfarrern analysierte. MARION ROSE (Paderborn) verdeutlichte anhand von Johann Baptist Metz, wie sein Kriegseindruck sich unmittelbar auf seine neue politische Theologie auswirkte. HARMJAN DAM (Frankfurt am Main) bezog sich sodann auf die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Religionspädagogik von Hermann Schuster und Martin Rang. Einen quantitativen Blick auf Pfarrerverkündigungen im Kontext „Frieden“ warf HELGE-FABIEN HERTZ (Kiel).

Neben den direkten Kriegsbezügen fanden sich auch andere Perspektiven der drei K, gerade bezogen auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. GEERT FRANZENBURG (Münster) ermöglichte Einblicke in den sogenannten Kalten Krieg mit religionspsychologischer Brille. ANNA NEUMANN (Paderborn) ermöglichte über Krisenfragen den Bezug zur Ableismuskritischen Religionspädagogik. MAIKE DOMSEL (Duisburg-Essen) und MAURICE ANDREE (Bonn) sprachen über die deutsche Wiedervereinigung als Krisenbewältigung.

Heutige Deutungen der katastrophalen Vergangenheit wurden besonders in Beiträgen zu Erinnerungskulturen mit Blick auf Katastrophen, Kriege und Krisen deutlich. STEPHANIE LERKE (Dortmund) beschrieb, dass Erinnerungslernen für die Religionspädagogik aktueller denn je sei. Sie bezog sich insbesondere auf das Shoa-Gedenken und analysierte das Mahnmal in Wewelsburg. INGE KIRSNER (Tübingen) eröffnete Zugänge zu filmischen Katastrophendeutungen und der medialen Erinnerungskultur. Katastrophenfilme hatten in den vergangenen Jahrzehnten Hochkonjunktur, was auch mit der neuartigen Gewaltmacht der Bilder und Sounds seit der Entwicklung des digitalen Kinos zu tun hat. Neben dem Holocaust bzw. der Shoa hat Hollywood auch andere Schwellenereignisse der Menschheitsgeschichte oder dystopische Entwürfe auf die Leinwand gebracht.

Interessant sind auch immer die Lücken in den Forschungsinteressen bei Tagungen: Im Call for Papers wurde explizit die Perspektive der historischen Religionspädagogik auf Umweltkatastrophen und -krisen und auf große Kriege von den napoleonischen Kriegen über Weltkriege und Kaltem Krieg bis 9/11 und ihre religionspädagogische Verarbeitung nachgefragt. Dennoch ergab sich der oben genannte Schwerpunkt auf kriegerische Katastrophen im frühen 20. Jahrhundert. Die Interpretationen und religionspädagogisch abgeleiteten Aspekte waren dessen ungeachtet vielfältig und können in der geplanten Tagungsdokumentation (in der Reihe StRB bei der EVA Leipzig) nachgelesen werden.

Musikalisch gerahmt und angeregt wurde die Veranstaltung durch Katastrophen-Klavierstücke von Schostakowitsch, Dett, Busoni und Ullmann, ausgewählt, gespielt und erläutert von Harald Schroeter-Wittke).

Angesichts der aktuellen Lage bleibt zu resümieren und offene Fragen für die Zukunft zu stellen: Katastrophen, Krisen und Kriege beschäftigen uns heute genauso wie im 19. und 20. Jahrhundert. Es bleibt religionspädagogisch die Frage: Wie gehen wir zukünftig in der religiösen Bildung an den Lernorten Schule, Hochschule und Kirche mit Katastrophen um? Die Deutung heutiger Katastrophen, Kriegs- und Krisenerfahrungen (z.B. Corona, Klima, Ukraine) kann durch die Beleuchtung historischer Ereignisse angeregt werden. Die Reflexion ist heute notwendig: Inwiefern können wir aus Vergangenem lernen? Wie gelingt die Reflexionsanregung bei Studierenden, Gemeindegliedern oder Schüler:innen?

Konferenzübersicht:

Harald Schroeter-Wittke (Paderborn) / David Käbisch (Frankfurt am Main): Begrüßung

Richard Janus / Naciye Kamcili-Yildiz / Marion Rose (Paderborn): Einführung ins Thema

Harald Schroeter-Wittke: Dmitri Schostakowitsch (1906–1975): Präludium und Fuge C-Dur, aus: 24 Präludien und Fugen op. 87/1 (1950)

Hauptvortrag

Moderation: Richard Janus (Paderborn)

Felix Hinz (Freiburg): Religiöse Deutungsmuster in historischen Arbeiten im Hinblick auf sowie unter dem Eindruck von Katastrophen

Forschungsimpulse I

Moderation: Marion Rose / Harald Schroeter-Wittke (Paderborn)

Antje Roggenkamp (Münster): Religionspädagogik als Krisenwissenschaft

Maike Domsel (Duisburg-Essen) / Maurice Andree (Bonn): Inwiefern kann eine spirituelle Grundkompetenz zur Krisen- und Katastrophenbewältigung beitragen? – Eine religionspädagogische Reflexion am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung

Naciye Kamcili-Yildiz (Paderborn): Katastrophen als Thema der islamischen Religionspädagogik

Anna Neumann (Paderborn): Zwischen lebensunwertem und selbstbestimmtem Leben – Konturen einer Ableismuskritischen Religionspädagogik

Michael Lapp (Frankfurt am Main): Erinnerungskultur und „Vergangenheitsbewältigung“ im Spiegel von Pfarr- und Schulchroniken

Helge-Fabien Hertz (Kiel): „Krieg“ und „Frieden“ in der evangelischen Verkündigung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Harald Schroeter-Wittke: Robert Nathaniel Dett (1882–1943): Father Abraham, aus: 8 Bible Vignettes (1943)

David Käbisch (Frankfurt am Main): Mitgliederversammlung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik

Forschungsimpulse II

Moderation: Naciye Kamcili-Yildiz (Paderborn) / David Käbisch (Frankfurt am Main)

Christine Auer (Frankfurt am Main): Revolutionsjahre 1848/1849: Die Begründer der „Anstalten für Kretine Kinder“ Carl Heinrich Rösch (Mariaberg, Schwäbische Alb) und Georg Friedrich Müller (Riet, später Stetten im Remstal): ein Vergleich ihrer jeweiligen Vorstellungen für eine Entwicklung des Religionsunterrichts auch für kretine Kinder

Thomas Nauerth (Osnabrück): „Nichts außer der Erziehung zum Ethos dieser Idee fehlt“ – eine religionspädagogische Relecture von „Weltkirche und Weltfriede“ (1924)

Said Topalovic (Erlangen-Nürnberg): Religiöse Bildung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Reformbewegungen in Bosnien-Herzegowina am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts

Andreas Kubik-Boltres (Osnabrück): Der andere religionspädagogische Aufbruch – Otto Eberhards Syntheseversuch nach dem Ersten Weltkrieg

Werner Simon (Mainz): „Unser Anteil an der vaterländischen Erziehung der Jugend“ (Heinrich Mayer). Nationale Erziehung im Kontext der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs

Richard Janus (Paderborn): Der Religionsunterricht vor der Judenfrage. Antisemitismus bei Hermann Tögel und Kurt Freitag

Forschungsimpulse III
Moderation: Andreas Kubik-Boltres (Osnabrück) / Anna Neumann (Paderborn)

Sebastian Engelmann (Karlsruhe): „... geistige, sittliche Führerschaft tut der Jungmannschaft in Schule, Garnison und Feld gleich not“ – Die Entwicklung der religiösen Zeitdiagnosen von Hermann Lietz (1868–1919) im Angesicht der Katastrophe

Harmjan Dam (Frankfurt am Main): Hermann Schuster und Martin Rang (1920–1960) – Wie zwei Religionspädagogen mit den Katastrophen „Nationalsozialismus“ und „Zweiter Weltkrieg“ umgegangen sind

David Käbisch (Frankfurt am Main): Das „Kriegserlebnis“ und seine religionspädagogischen Deutungen nach 1918 und 1945

Jan Christian Pinsch (Paderborn): Frömmigkeit als Antwort auf Krisen und Katastrophen? – Die Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert in Lippe und der Lippische Gemeinschaftsbund

Harald Schroeter-Wittke: Ferruccio Busoni (1866–1924): Sonatina (Nr. 4) in diem nativitatis Christi MCMXVII (1917)

Forschungsimpulse IV

Moderation: Jan Christian Pinsch (Paderborn) / Michael Wermke (Jena)

Marion Rose (Paderborn): Johann Baptist Metz (1928–2019) und die „Autorität der Leidenden“ – Zielkategorie einer Religionspädagogik als Krisenwissenschaft?!?

Geert Franzenburg (Münster): Vom „Kreuzzug“ zum „Kreuz tragen“. Die Verarbeitung des Vernichtungskriegs im Osten im „Kalten Krieg“ und nach dem Ende der Sowjetunion: Religionspsychologische Anmerkungen

Stephanie Lerke (Dortmund): Bildgewordene Erinnerung als Begegnungsraum – Erinnerungslernen mit Kunst im Religionsunterricht

Inge Kirsner (Paderborn): Verschwörung, Strafe Gottes oder notwendiges Übel? Die theologische Bearbeitung von Pandemien in Filmen des 20. und 21. Jahrhunderts

Jan Woppowa (Paderborn): Widerstand als Kategorie krisen- und differenzsensibler jüdischer Erwachsenenbildung und darüber hinaus

Harald Schroeter-Wittke: Viktor Ullmann (1898–1944): Variationen und Fuge über ein hebräisches Volkslied, Satz 5 der 7. Klaviersonate (Theresienstadt 1944)